Zum Sträßele hinaus – Von Peter Grohmann

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Immer wieder Stuttgart: eine kleine Protestgeschichte der Schwabenmetropole

Peter Grohmann

der Freitag / Nr. 22 / vom 28.5.2020 / Seite 4

Wer fährt jetzt noch nach Stuttgart, jetzt, wo gebaut wird! Aber Momentle: Die Ankunft in Stuttgart war damals, als alles besser war (und schon damals war früher alles besser), etwas Besonderes: eine fast liebliche Einfahrt, wenn man den Zug genommen hätte. Freilich hatte die Bahn zu Hölderlins Zeiten nur Pferde aus dem Stutengarten – Hölderlin kam abgewrackt, und zu Fuß, und er schrieb 1826: „Herrlich steht sie und hält den Rebenstab und die Tanne / Hoch in die seligen purpurnen Wolken empor. / Sei uns hold! dem Gast und dem Sohn, o Fürstin der Heimat! / Glückliches Stuttgart, nimm freundlich den Fremdling mir auf!“

250 Jahre später welken Rebenstab und Tanne, aber der Daimlerstern grüßt weithin und betrügerisch die Frühaufsteher: „Gastarbeiter“, die unter die Erde wollen, Bahnhof bauen, angesteckte türkische Eisendreher, unterwegs in Quarantäne. Gebaut wird immer – das ist das System. Meistens wird vorher was Schönes abgerissen. Das Kaufhaus Schocken, das Kronprinzenpalais, der Bonatz-Bau, die EnBW-Zentrale, die Calwer Passage undsoweiter.

Baden-Württembergs Landeshauptstadt liegt exakt zwischen Paris und Bratislava und verwendet viel Geld und Schweiß (man hat’s ja!) darauf, den Anschluss an Europa nicht zu verpassen. Zu spät. Dabei ist der Ort mit Altem und Neuem Schloss und ohne öffentliche Toiletten, mit Natur und Topografie gesegnet, doch die Leute können mit dieser unvergleichlichen Lage „nix Rechtes anfangen“, so der Stadtplaner und Architekt Roland Ostertag. Er gehörte zu den vehementen Gegnern des „Milliardengrabs 21“, rechnete schon bei der Volksabstimmung 2011 vor, dass Stuttgart 21 nicht zwei, drei oder vier, sondern 16 Milliarden Euro kosten wird. Wenn’s reicht, wie der Schwabe sagt. Heute sind wir bei rund 8,7 Milliarden, aber es ist ja noch Zeit bis zur eventuellen Fertigstellung des weltweit ersten Kellerbahnhofs mit abschüssigen Gleisen, aber ohne ausreichenden Brandschutz.

Die Menschen dieser Stadt sind als Dauerprotestanten in der Regel mindestens ebenso gut, meistens aber besser informiert als die Hottwollee, die Stadträte und Landräte und Journalisten. Sie haben mehr Fachleute, mehr Querverbindungen, mehr Standvermögen und mehr Zeit, sie können sich als Tüftler und „Bäschtler“ mit Vergnügen ins Detail stürzen, notfalls so lange, bis sie das Auto erfunden haben oder den elektrischen Feuermelder, den Büstenhalter, das Klopapier auf Rolle oder eine einhändige Motorsäge, mit der man heute noch die Urwälder Amazoniens abholzt.

Abgeholzt mit Stihl
Beim Auto klappt die Symbiose zwischen dem schwäbischen Tüftler und der Technik nicht mehr wie 1885, da wirken auch Ministerpräsident Winfried Kretschmanns Stoßgebete um Kaufprämien für alte Neuwagen nicht. Der Trick mit der Abschalteinrichtung – im Volksmund Bescheisserle – flog auf, als Stuttgart zu Europas Feinstadthauptstadt mutierte. Die 300 Jahre alten filternden Bäume im Schlossgarten – ein halber Wald vis-à-vis vom Neckartor – waren weg wie der Reizdarm nach der Einnahme von Kijimea pro. Abgeholzt mit Stihl.

Die rechtsgewirkten Feinstaubfreunde vom Zentrum Automobil, einer Mini-Gewerkschaft, demonstrieren in Stuttgart passgenau in Gelbwesten, mit Bullys und „Wir sind das Volk“-Unkenrufen. Ein paar Mal waren 500 plus auf der Straße, aber das Feuerle glimmt lustig weiter. Protest lernt man hier von Kind auf, und schon im März 1933 haben sie dem Hitler per Axt Kabel und Wort abgeschnitten. Der Führer war sauer – und tonlos im Reichsrundfunk.

Den unterprivilegierten Mietern in den Feinstaub-Hotspots der Stadt geht das alles am Arsch vorbei. Sie tippen auf die Fake News der Autolobby und gucken bei den Fahrverboten in die Röhre, weil sie sich kein Auto leisten können. Kretschmanns Prämie würden sie nehmen. Sie sind todsicher, dass sie nicht früher sterben müssen, nicht an Corona. Zeitgleich macht das Zentrum Automobil der IG Metall mehr Sorgen als Klimawandel oder der CO₂-Auspuff. Dabei ist das alles Gaisburger Marsch: Der deftige Eintopf aus Fleisch, Gemüse und Spätzle wird hier mit Demeter-Zutaten gekocht. Was etwa die AfD in Radebeul ist, sind sechs „Gelbwesten“ im Betriebsrat: Der Feuermelder als Seismograf für die Auto-Endzeit? Die Rechten kamen bei Daimlers Betriebsratswahl auf sechs Sitze (13,2 Prozent), das gibt der IG Metall mehr zu denken als der Erfolg der antiautoritären plakat-Gruppe um Willi Hoss vor fast 50 Jahren: Die oppositionellen IG-Metaller erreichten fast 40 Prozent der Stimmen, weil sie weltoffene und basisnahe Linke waren, die die verkrusteten Strukturen in Betrieb und Gewerkschaft brechen wollten.

Man wird älter und älter und älter und sieht sich seit Jahrzehnten in einer Kontinuität, die es sonst nur selten gibt: Am 1. und am 8. Mai, immer mit schlechter Tontechnik und Musik und noch schlechteren Rednern (nein, Frauen sprechen hier nicht), im Württembergischen Kunstverein, im eigenen Theaterhaus, in kommunistischen und anders gearteten Waldheimen, bei Dogmatikern oder im Wartezimmer und selbst in diesen Tagen bei Demos: Kellerbahnhofsgegner, zu kurz gekommene Sozialdemokraten, Abtreibungsfeinde und Stalinisten, die in bevorzugter Halbhöhenlage hausen, die schlagfertige Antifa, Antikapitalista, alle ohne Rollator.

Die 500. Montagsdemo gegen Stuttgart 21 am 3. Februar 2020 mit etlichen Tausend Teilnehmenden aus dem ganzen Gäu konnte Roland Ostertag nicht mehr erleben, er starb 2018. Die Montagsdemos haben momentan Corona-Pause, auch die legendäre Mahnwache vor dem Hauptbahnhof, die bei der Ordnungsbehörde als Dauerversammlung geführt wird: an 365 Tagen im Jahr stets 24 Stunden geöffnet, bei jedem Wetter, seit fast einem Jahrzehnt. Erklären lässt sich das einerseits mit Ausdauer und Einsicht der Protestanten, die sich an die Leuchtschrift an der ramponierten Bahnhofsfront klammern: „… daß diese Furcht zu irren schon der Irrtum selbst ist.“ Das Zitat von Hegel, dem größten Sohn Stuttgarts, ist eine Installation Joseph Kosuths, in den 1990ern Professor an Stuttgarts Akademie der Bildenden Künste.

Und jetzt wegen Corona?
Andererseits? Der Widerstand der Stadtbürger 21 ist der Tradition und dem Geist der Aufklärung geschuldet, aktiv und eigenverantwortlich am Gemeinwesen teilzunehmen. Auf den Kundgebungen bekommen auch die streikenden Verkäufer das Wort, Fridays for Future, Mieterinitiativen, Delegierte aus dem Istanbuler Gezipark, Flüchtlinge aus Afghanistan oder Aktivisten gegen unnütze und aufgezwungene Großprojekte aus Italien.

Es ist der Blick über den Stuttgarter Bahnhofsturm hinaus, die Spiegelung der kommunalen und internationalen Konflikte, der den Protest so besonders macht. Es geht eben nicht nur um einen in den Keller verlegten Bahnhof, sondern um die fortwährende Verweigerung von Bürgerrechten und -beteiligung. Es geht wie seinerzeit beim Daimler darum, ob und wie sich verkrustete Strukturen in der Gesellschaft brechen lassen, und nebensächlich: wie wir leben wollen, mit wem, ob mit oder ohne Auto. Die Frage wird sehr unterschiedlich beantwortet, je nachdem, was das gesellschaftliche Sein so hergibt: Wer jeden Monat Mühe hat, die horrende Miete aufzubringen, wer um seinen Arbeitsplatz fürchtet, wer alleinerziehend die Kinder am Hals hat, antwortet anders als die Fremdsprachensekretärin im Mehrgenerationenhaus.

Die meisten Stuttgarter sind Ausländer und verantwortlich für deutsche Wertarbeit. Loretta zum Beispiel. Die Frau aus Moltepulciano hat die Kultur der „Stadt der Auslandsdeutschen“ mit der italienischen Avantgarde bekannt gemacht, mit Lotta Continua und der Küche Italiens – genauso wie Frank Ackermann aus dem Hegelhaus. Als der Philosoph zum 250. Mal in Hegels Geburtshaus zum Vortrag einlud, ging das ohne Obrigkeiten – die Antipasti kamen von Loretta. Das ist Stuttgart und Stuttgart ist Geschichte, etwa Wendelin Niedlich, der Buchhändler, bei dem Joschka Fischer klaute und Gudrun Ensslin einkaufte. Er machte die verleugnende Stadt mit ihren alten Nazis, der vergessenen Gestapo-Zentrale Hotel Silber, vertraut und praktische Politik zum Buch: 1961 organisierten die Linkssozialisten mit dem Buchhändler eine Busfahrt zur Antrittsvorlesung von Ernst Bloch in Tübingen. 1976 verkauften sie gemeinsam Karten für das Konzert Wolf Biermanns in Fellbach. Der Liedermacher nannte unter dem Jubel junger Stuttgarter den amtierenden Ministerpräsidenten Hans Karl Filbinger richtigerweise einen alten Nazi, was die liberale Stuttgarter Zeitung scharf kritisierte. Eine andere gab es nicht.

„Impfpflicht für Aluhüte“ forderten die „AnStifter gegen Gewalt und Vergessen“ dieser Tage mit provokanten Plakaten bei den rechts belasteten Aufmärschen gegen die endgültige Abschaffung der Demokratie auf dem Cannstatter Wasen. Jüngst frohlockte die Sächsische Zeitung, dass der Wutbürger in Stuttgart – nicht in Dresden – zehntausendfach gegen Corona aufmarschiere und so sein wahres Gesicht zeige: demonstrationserfahren, rasch mobilisierbar und mit einem gewissen Ekel gegen die Machteliten. Fehlschuss. Die Citoyens und Stuttgart-21-Gegner lassen sich vor allem aufseiten der Demokratie verorten. Stuttgart ist bundesweit die Stadt mit den meisten Demonstrationen. Das muss doch irgendwann mal wirken. Es befördert jedenfalls in jahrzehntelanger Praxis überschüssiges Bewusstsein. Wohin damit, wenn nicht auf die Straße? Nach links, wo das Herz schlägt?

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Peter Grohmann, Jahrgang 1937, ist Autor, Aktivist und Koordinator der „AnStifter gegen Gewalt und Vergessen“. Er lebt in Stuttgart und ist den LeserInnen von MENGEDE:InTakt! seit langem bekannt durch die wöchentlichen Kolumnen, die wir freundlicherweise auf MIT nachdrucken dürfen.
Wir danken Peter Grohmann für seine Zustimmung zum Abdruck des vorstehenden Beitrags, der am letzten Wochenende in der Wochenzeitung „der Freitag“ erschienen ist.

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