Löwenjagd in Berlin – gestern und heute

Viel Lärm um nichts

Es hat schon mit viel Realsatire zu tun, was sich seit Donnerstag dieser Woche in dem Ort Kleinmachnow in der Nähe von Berlin abspielte und durch die mediale Aufmerksamkeit die Republik in Jagdfieber versetzte und Teile der Weltöffentlichkeit bewegte, zumindest beim vorläufigen Abschluss deren Lachmuskeln. Was war geschehen? Ein junger Mann, der sich zu nächtlicher Stunde, warum auch immer, im Wald aufhielt, hatte seiner Meinung nach ein Raubtier gesichtet, das ein Wildschwein vertilgte.
Seine Beobachtung hatte er in einem kurzen sehr unscharfen Video festgehalten, das er an die Polizei weiterleitete und das sich später wie ein Tsunami in den sozialen Netzwerken verbreitete. Besagter junger Mann und auch die Polizei waren sich sicher, dass es sich bei dem Raubtier um eine streunende Löwin handelte. Anwohner und auch Polizisten hatten spätere Sichtungen gemeldet, einige sogar Löwengebrüll gehört. Hunderte schwerbewaffnete Polizisten, Jäger und ein Veterinärmediziner machten sich auf Spurensuche, um das Tier einzufangen oder zu erlegen. Die Bevölkerung wurde aufgefordert, das Haus möglichst nicht zu verlassen.
Nur, die Spurensuche war nicht erfolgreich, keine Spuren von dem angefressenen Wildschwein und schon gar keine von der Bestie. Nach mehr als einem Tag Suche wurde das Bildmaterial Experten zur Auswertung vorgelegt. Die meisten waren sich einig. Auf dem Film ist keine Löwin auszumachen, höchstens ein zweites Wildschwein. Da man sowieso des Suchens müde war, wurde die Löwin zum Wildschwein erklärt und die Suche abgebrochen, nicht ohne den Hinweis, jetzt könne die Bevölkerung beruhigt das Haus verlassen, die Gefahr sei vorüber. Ganz zu Ende ist die Geschichte allerdings noch nicht, denn andere Experten zweifeln an der Wildschweintheorie.
 
Mich hat diese Realsatire an eine alte Geschichte von Kurt Tucholsky von 1920 erinnert, die, zugegebenermaßen, von dem Autor mit dem hintergründigen Humor erfunden wurde. Aber vielleicht entdeckten Sie ja Parallelen zum Geschehen im Jahre 2023. Ich wünsche jedenfalls viele Spaß beim Lesen. (Diethelm Textoris)
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Der Löw‘ ist los

Von Kurt Tucholsky

Am sechsten Juli dieses Jahres beschloss der Löwe Franz Wüstenkönig aus dem großen Raubtierhaus des Berliner Zoologischen Gartens, fürder nicht mehr mitzumachen. Er brach aus.
Das machte er so, dass er, gelegentlich der Reinigung seines Käfigs durch den Oberwärter Pfleiderer in den Nebenkäfig gescheucht, das Schließen der Verbindungstür durch Dazwischen-Klemmen seines Schweifendes geschickt verhinderte, die Reinigung abwartete, sich dann mit Gebrüll Nr. 3 auf den ahnungslosen Pfleiderer stürzte, diesen über den Haufen rannte und durch die offenstehende Käfigtür das Weite suchte und fand. 

Der Löw’ ist los –! Dieser Schreckensruf verbreitete sich, einem Lauffeuer gleich, in den Wandelgängen unseres geliebten Zoologischen Gartens. Die Aufregung der Besucher war unbeschreiblich. Viele ließen in der Eile ihr Bier stehen, ohne zu zahlen – und noch lange nach diesen Ereignissen sah man an den Restaurants des Zoo die Kette der ehrlichen Berliner anstehen, die ihre schuldige Zeche begleichen wollten. Kinderwagen fielen um und ergossen ihren schreienden Inhalt auf die Wege, ältere Damen, die sonst nur mühsam einherschlurchten, liefen plötzlich, dass es eine Freude war – die Lästerallee war wie leergefegt, und nur ängstliche Kellner saßen hoch oben in den Zweigen der Bäume, und ihre schwarzen Fräcke hingen hernieder wie die Schwänze fremdartiger Zaubervögel. Der Löw’ ist los –! 

Hastig stürzten die aufgeschreckten Menschen auf die Straßen und ohrenbetäubend verkündete auch dort ihr Geschrei: »Der Löw’ ist los! Und seinen Apostroph hat er auch mitgenommen –!« 

Die Wirkung war furchtbar. Wüstenkönig war noch damit beschäftigt, gedankenvoll und langsam in der leeren Waldschänke die dort aufgehängten kleinen Würstchen zu verzehren – da standen draußen schon ganze Straßenzüge auf dem Kopf. Die gewöhnlichen Leute stürzten, haste was kannste, über Rinnsteine, Hunde, Babys, Aktentaschen, und dicke Damen, die nicht weiter konnten…Es ging zu wie in einer getauften Judenschule. 

Der Löwe Wüstenkönig war inzwischen mit den Würstchen fertig geworden. Er brüllte nach dem Kellner – keiner kam. Unwillig mit dem Schweif den kleinen Alltagsreif schlagend, begab sich Wüstenkönig ins Freie. Das majestätische Tier schritt würdevoll dem Ausgang nach dem Kurfürstendamm zu…

…Berlin war aufgestört wie ein Ameisenhaufen, Die Börse nahm die Nachricht vom Ausbruch des Löwen verhältnismäßig gefasst auf. (Haben Sie schon mal eine Nachricht gesehen, die die Börse nicht gefasst aufgenommen hätte?) Montanwerte fester, Geiste leicht angezogen, Brauereien flau, Jakob Goldschmidt immer oben auf, Herbert Guttmann repartiert, Häute fest.
Im Reichswehrministerium tagte gerade eine Unterkommission des Untersuchungsausschusses zur Nachprüfung seiner eignen Unentbehrlichkeit, als die Schreckensnachricht eintraf. Das Frühstück, Verzeihung, die Sitzung, wurde sofort abgebrochen. Zwei Generalstabsoffiziere arbeiteten hopphopp mit ihren Referenten einen Feldzugsplan für die Bekämpfung des Löwen aus und forderten dazu an:
2 Armeekorps, 1 Pressestelle, 24 außeretatmäßige Stabsoffizierstellen, 1 Stück Kanone, 1 Land-Panzerkreuzer. 

Die Behörden hatten inzwischen fieberhaft gearbeitet. In aller Eile, so gut das eben in der Geschwindigkeit ging, hatte man eine Reichslöwenabwehrabteilung mit einem Sonderressort für bayerische Löwen begründet, und es handelte sich nur noch darum, ob die Abteilung das ganze Rathaus oder das Hotel Adlon beziehen sollte – 

Die Deutsche Volkspartei war wie stets auf dem Posten. Schon nach einer halben Stunde klebten an allen Säulen und Bäumen knallblaue Plakate:
»Mitbürger! Der Löw’ ist los! Wer ist daran schuld? Die Juden! Wählt die Deutsche Volkspartei!« 

Das Leben in der Stadt war völlig umgekrempelt. Niemand wagte sich mehr aus dem Hause. Aus allen Stadtteilen wurden Löwen gemeldet – im ganzen zweiundsechzig. Acht große Hunde wurden erschossen, erst an den Hundemarken erkannte man den kleinen Irrtum. Bei Königs ließ die Köchin Babett das Teeservice mit dem gesamten Gedeck fallen, weil ihr der junge Herr von hinten einen Kuß aufgedruckt hatte. Mit dem Ausruf: »Jessas! der Löwe!« brach das brave Mädchen zusammen.
Die Berliner Theaterdirektoren Bindelbands suchten verzweifelt den Löwen. Sie wollten ihn für den Shawschen ›Androklus‹ engagieren. Sie fuhren von Straße zu Straße – kein Löwe. Feuerwehrautos klingelten durch die Gegend – kein Löwe. Der Löwe war fottefliegt. 

Der Löwe war gar nicht fort. Er war, des Wartens müde, aufgestanden, schlenderte nun durch die Straßen, erblickte einen Wagen mit Kirschen und warf ihn, durch den hohen Preis erschreckt, um – und dann war er weiter und weiter gegangen. 

Also das war Berlin! Dieser traurige Haufe von Steinkästen und schnurgeraden Straßen, die alle ein bißchen unsauber aussahen – das war das Weltdorf Berlin! Der Löwe schüttelte das Haupt. Da hatten ihm die Spatzen im Käfig wer weiß was erzählt – und wenn abends vor der Fütterung aus dem Raubtierhaus, ja, aus dem ganzen Zoo ein Schrei aufstieg: »Swoboda!« (Russisch ist nämlich das Volapük der Tiere, und dies heißt so viel wie Freiheit!) – dann meinten alle, die ja zum großen Teil ihre natürliche Heimat nie gesehen hatten, gar nicht Afrika oder die Kordilleren oder Indien – der Schrei hieß: Berlin! – Einmal auf der Rutschbahn im Lunapark fahren, war die Sehnsucht der Krokodile; einmal zum Rennen nach Ruhleben, danach lechzten die Aasgeier; einmal sich in der Bar wälzen können, träumten die wilden Schweine. Abend für Abend. Und das hier war Berlin? Das war es? Wüstenkönig schüttelte nochmals das Haupt. 

Und da rückte es heran. Die Feuerwehr von der einen Seite und die Gebirgs-Marine der Reichswehr von der andern, Kino-Operateure und Leute, die bei allen Premieren dabei sein müssen, Journalisten, Damen der ersten besten Gesellschaft und die Bindelbands … Da rückte es heran. Und das Erstaunliche geschah, dass sich der Löwe Franz Wüstenkönig, der Beherrscher der Tiere, die Majestät der Fauna pp., ruhig abführen ließ – in seinen Käfig zurück, in das große Raubtierhaus des Zoologischen Gartens. 

Und als die Tür hinter ihm zugeklappt war und ihn der Oberwärter Pfleiderer vorwurfsvoll angeschnupft hatte, und als sich der ganze Schwarm verlaufen, da senkte der enttäuschte Löwe den Schweif, den er bis dahin glorios nach oben getragen hatte, streckte sich still der Länge lang hin und sagte mit Wärme und Überzeugung: »Nie wieder –!« 

Kurt Tucholsky unter dem Pseudonym Peter Panter für das Berliner Tageblatt, 07.07.1920.
Der Originaltext wurde leicht gekürzt.

   

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