Zeitzeichen I
Das Sozialistengesetz und seine Auswirkungen auf die Sozialdemokratie
„Sozialistengesetz“ ist die Kurzbezeichnung für das „Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie“, das am 19. Oktober 1878 mit der Stimmenmehrheit der konservativen und der meisten nationalliberalen Abgeordneten im Reichstag des Deutschen Kaiserreichs verabschiedet und nach der Unterzeichnung durch Kaiser Wilhelm I. am 22. Oktober 1878 in Kraft getreten ist. Es wurde insgesamt viermal verlängert bis zum 30. September 1890. Das Gesetz verbot sozialistische und sozialdemokratische Organisationen und deren Aktivitäten im Deutschen Reich. Es kam damit einem Parteiverbot gleich.
Schon vor der Gründung des Deutschen Reiches (1871) gab es zwei konkurrierende sozialdemokratische Parteien: der 1863 gegründete reformorientierte Allgemeine Deutsche Arbeiterverein (ADAV), und die 1869 gegründete eher revolutionär eingestellte Sozialdemokratische Arbeiterpartei (SDAP). In den Folgejahren gingen die beiden Parteien auf einander zu; beim gemeinsamen Parteitag 1875 in Gotha entstand daraus die Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands (SAPD); diese wiederum wurde 1890 in Sozialdemokratische Partei Deutschlands (SPD) umbenannt. Die neue Partei verstand sich als die parteipolitische Interessenvertretung der Arbeiterbewegung. Sie strebte langfristig eine Verbesserung der sozialen Lage der Arbeiter und letztlich die Überwindung der gegebenen unsozialen Verhältnisse und undemokratischen Herrschaftsstrukturen an.
Reichskanzler Otto von Bismarck betrachtete diese Parteien seit ihrer Gründung als „Reichsfeinde“ und versuchte, sie schon vor dem Sozialistengesetz mit repressiven Maßnahmen zu bekämpfen. Aufgrund des zunächst auf zweieinhalb Jahre befristeten und danach regelmäßig verlängerten Sozialistengesetzes wurden auch die den Sozialdemokarten nahestehenden Gewerkschaften verboten. Wer gegen das Gesetz verstieß, wurde zu einer Geld- bzw. Gefängnisstrafe verurteilt.
Einzelpersonen durften allerdings bei Wahlen für die Sozialdemokratie kandidieren, so dass deren Fraktionen sich im Rahmen der parlamentarischen Arbeit des Reichstages bzw. der Landtage legal betätigen konnten. Durch die politische Ausgrenzung der sozialdemokratischen Opposition kam es zu einer Solidarität großer Teile der Arbeiterschaft; diese führte seit 1881 zunehmend zu Wahlerfolgen der Kandidaten der sozialistischen Bewegung.
Gab es für die Sozialdemokraten 1881 nur 311.961 Stimmen, waren es 1884 bereits 549.990, 1887 763.128 Stimmen, 1890 sogar 1.427.000 Stimmen. Mit letzterem Ergebnis wurde die SAP, noch vor ihrer Umbenennung in SPD, zum ersten Mal die wählerstärkste Partei des Reiches.
Auch international war die deutsche Sozialdemokratie trotz der Unterdrückung im eigenen Land zur weltweit einflussreichsten sozialistischen Partei ihrer Zeit geworden. Bei der Gründung der Sozialistischen Internationale 1889 in Paris war die sozialistische Bewegung aus dem Deutschen Reich mit 85 der 400 Delegierten aus 20 Staaten beteiligt.
Bismarck versuchte, das Erstarken der Sozialdemokratie mit einer verschärften Änderung und einer auf Dauer angelegten Vorlage zur Änderung des Sozialistengesetzes zu verhindern. Mit diesem Vorhaben scheiterte er, was maßgeblich zu seiner Entlassung im Jahr 1890 durch den zwei Jahre vorher inthronisierten Kaiser Wilhelm II. führte.
Die Aufhebung des Sozialistengesetzes stärkte die Sozialdemokratie als ernstzunehmenden Machtfaktor. Aus der Reichstagswahl 1912 ging sie mit 34,8 % Wählerstimmen bzw. 110 Reichstagsmandaten als klarer Wahlsieger hervor. Der Geist des Sozialistengesetzes wirkte indessen auch nach 1890 in Politik und Gesellschaft des Deutschen Reiches fort. So versuchten die Regierungen im Reich und in Preußen neue antisozialistische Gesetze durchzusetzen; z. B. die „Umsturzvorlage“ (1894), das sogenannte „kleine Sozialistengesetz“ in Preußen (1897) und insbesondere die „Zuchthausvorlage“ (1899), mit der ein Sonderstrafrecht für Arbeiter geschaffen werden sollte, um die Gewerkschaften und die Sozialdemokratie zu schwächen. Zwar scheiterten alle diese Gesetzesvorlagen. Dennoch wurden die Sozialdemokraten noch lange Zeit als „vaterlandslose Gesellen“ diffamiert; ein Schimpfwort, das bis weit ins 20. Jahrhundert von den politischen Gegnern der Sozialdemokraten verwendet wurde.
Erst beim Ausbruch des Ersten Weltkrieges im August 1914, als es darum ging, das Volk für den Krieg zu mobilisieren, überdachte Kaiser Wilhelm II. als „oberster Kriegsherr“ Deutschlands die auch von ihm bis zuletzt vertretene Strategie der politischen Isolierung der Sozialdemokratie. Er verkündete mit Blick auf die Sozialdemokraten, er kenne „keine Parteien mehr, sondern nur noch Deutsche“. Die Sozialdemokraten fühlten sich dadurch als vollwertige Partner anerkannt – der Kaiser hatte sie mit „Schmus besoffen“ gemacht. Obwohl sie zwei Tage vorher noch über einen Generalstreik nachgedacht hatten, stimmte die SPD-Reichstagsfraktion geschlossen für die ersten Kriegskredite. und leitete damit die Burgfriedenspolitik ein.
Auszug aus dem