Wohin mit den Eltern? Leben und sterben, wo ich hingehöre

Es kann nicht behauptet werden, dass die mediale Berichterstattung der Frage nicht nachgeht: Wohin mit den Eltern, wenn sie zum Pflegefall werden? Es sind sich die meisten im Lande einig: So wie bisher, kann es mit der Pflege alter Menschen nicht mehr weiter gehen.

Deutlich wurde das kürzlich auch durch zwei von einander unabhängigen Meldungen. Ulla Schmidt – Gesundheitsministerin der Bundesregierung – kündigte ein von den Krankenkassen zu finanzierenden „Pflege-Urlaub“ an. Bis zu 10 Tage bezahlten Urlaub sollen Angehörige bekommen, wenn sie Verwandte versorgen müssen. Beinahe zeitgleich sorgte ein Bericht über deutsche Pflegeheime für Aufsehen. Danach werden mindestens 10 % der Bewohner in den überprüften Heimen so schlecht versorgt, dass ihre Gesundheit gefährdet ist. Da verwundert es nicht, wenn 85 % der Bundesbürger nach einer aktuellen Umfrage auf keinen Fall die letzten Wochen und Monate ihres Lebens in einem Heim verbringen wollen.

Was ist zu tun in einer Situation, in der Institutionen, die traditionell für die Pflege zuständig sind – die Familie und der Staat – diese Aufgabe offensichtlich nicht mehr erfüllen können? Die Aussicht auf 10 Tage „Pflege-Urlaub“ jedenfalls wird nur wenig ändern. Hier sind vielmehr ganz andere, neue Ideen gefragt. Diese hat Prof. Klaus Dörner – Jahrgang 1933 und langjähriger Leitender Arzt an der Westfälischen Klinik Gütersloh – in seinem im Paranus Verlag erschienen Buch: „Leben und sterben, wo ich hingehöre – Dritter Sozialraum und neues Hilfesystem“ zusammengetragen.

Dörner beschreibt das „atemberaubende Ausmaß der vor uns stehenden Aufgabe, die mit früher erfolgreichen Mitteln der Institutionalisierung und Ökonomisierung des Helfens nicht mehr zu lösen ist.“ Er beschreibt verschiedene „solidaritätsorientierte Bürgerbewegungen“ und gesellschaftliche Hilfesysteme und insbesondere setzt er auf die Wiederbelegung des dritten Sozialraumes. Hierunter versteht er vor allem die nachbarschaftlichen Beziehungen, sofern sie denn im Bewusstsein der Gesellschaft eine Aufwertung erfahren. Und er unterbreitet Vorschläge, wie sich der Staat und die Profis auf die angestoßenen Veränderungen einstellen sollten – das ist alles nicht nebenbei zu erledigen, es fordert revolutionäre Veränderungen in der Altenpflege; mühsam nur wächst diese Erkenntnis, aber das kennen wir ja von der Diskussion über die Klimakatastrophe.

Auch bei der Betreuung alter und pflegebedürftiger Menschen bedarf es offenbar eines grundsätzlichen Bewusstseinwandels. Es fängt damit an, wie wir einen Mittfünfziger einschätzen, der nicht im Büro sitzt, sondern seinem dementen Vater die Windeln legt, die Schnabeltasse reicht und ihn anschließend im Rollstuhl durch den Park schiebt. Ursula März schrieb kürzlich zutreffend in der ZEIT von einem „lähmenden Tabu unserer Gesellschaft“ und meinte – eher resignierend: „Der Abgesang des menschlichen Daseins ist für die Sinnstiftung der Gesellschaft weitaus weniger attraktiv als sein Beginn. Sie redet gern viel über ihr eigenes Altern. Aber so, als handele es sich um ein seltsam abgerücktes, im Abstrakten liegendes Problem“. Wer Klaus Dörners Buch gelesen hat, wird zumindest ein Gefühl dafür bekommen, wo und mit welchen Mitteln das Problem des Lebens im Alter aus den Heimen zurück in die Lebenssituation der alt und pflegebedürftig gewordenen Menschen gerückt werden kann. Es kann nicht weiterhin als naturgegeben hingenommen werden, wenn das Alter, die Gebrechlichkeit und auch das Sterben ausgegrenzt und unsichtbar gemacht werden. Vielmehr müssen und können neue Lebensformen gefunden werden; es sind die Familien, unterstützt durch nachbarschaftliches und bürgerschaftliches Engagement gefordert und nicht zuletzt der Staat, indem er neue Wohnformen ermöglicht und unterstützt, wie sie in den letzten Jahren schon an verschiedenen Orten ausprobiert werden: Alten-Wohngemeinschaften, Seniorengenossenschaften, in denen sich die Bewohner gegenseitig unterstützen. Dann könnte auch der Wunsch der meisten Menschen realisiert werden: Alt werden und dort sterben, wo ich hingehöre – in der gewohnten Umgebung und in den eigenen vier Wänden.

(Hinweis: Dieser Beitrag wurde erstmals im September 2010 auf mengede-online veröffentlicht)