Internationaler Gedenktag gegen Menschenhandel am 30. 7. 23 ( 2 )

Im Gespräch mit den Medien v.l.: Andrea Hitzke, Heike Müller, Regine Rainalda, Laura Rudolf.

Forderungen der NRW-Vernetzung der spezialisierten Fachberatungsstellen
für Betroffene von Menschenhandel

Heute, am 30.07.23,  ist der Internationale Gedenktag gegen Menschenhandel. Aus diesem Anlass haben die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission Dortmund Überlegungen angestellt, wie sich die Lebenssituation der vom Menschenhandel betroffenen Hilfesuchenden in Dortmund aktuell darstellt und wie die Fachberaterinnen der Mitternachtsmission ihnen helfen könnten. (vgl- hierzu den Bericht auf MIT von 28.7.23). Wir setzen die Berichterstattung aus Anlass des Internationalen Gedenktages gegen Menschenhandel heute mit Forderungen der NRW-weit vernetzten spezialisierten Fachberatungsstellen für Betroffene von Menschenhandel fort und informieren schließlich anhand von zwei Fallbeispielen über den konkreten Alltag der Fachberatungsstelle der Mitternachtsmission Dortmund.

Mit Blick auf den Tag gegen Menschenhandel richtet sich die NRW-Vernetzung der spezialisierten Fachberatungsstellen an die politischen EntscheidungsträgerInnen und fordert:

  • Die Polizei braucht mehr Mittel und Möglichkeiten, um Menschenhandel als Kontrolldelikt verfolgen zu können. Für die Verfolgung der Täter*innen müssen Strukturen aufgedeckt und zerstört werden. Dazu bedarf es der Ermittlungen und Einsätzen durch die Polizei und viele aussagebereite Zeuginnen.
  • Es ist dringend notwendig, dass die Polizei, auch die Schutzpolizei, regelmäßig geschult wird mit dem Fokus Ausbeutung und Menschenhandel.
  • Die vorhandenen NRW-Runderlasse zu Menschenhandel von 1994 müssen endlich aktualisiert werden.

Die NRW-vernetzten Fachberatungsstellen sind gerne bereit, in einen intensiven Austausch mit den entsprechenden Ermittlungsbehörden zu kommen.

Opferzeuginnen der Schlüssel zum Erfolg seit 1994 in NRW
Nordrhein-Westfalen war das erste Bundesland, das die Bekämpfung von Menschenhandel als wichtigen Schwerpunkt zur Erhaltung der inneren Sicherheit in den Fokus nahm. Dabei war von Anfang an klar, dass die Opferzeuginnen der Schlüssel zum Erfolg sind. Bereits 1994 regelten Erlasse in NRW den Umgang mit ihnen. Diese berücksichtigen den besonderen Status der Betroffenen als Opfer eines schweren Verbrechens und als Zeuginnen in einem möglichen Strafverfahren. Ihre sichere Unterbringung, Beratung und Begleitung durch inzwischen acht spezialisierte Fachberatungsstellen wurde landesweit installiert und so konnten bis heute viele Frauen für ihre Aussagen bei Polizei und Gerichten stabilisiert und auf ihrem Weg zurück in ein menschenwürdiges Leben begleitet werden.

Nur die Spitze eines Eisberges sichtbar ohne Kontrollen
Menschenhandel ist ein Kontrolldelikt, die Fachberatungsstellen vermissen aber regelmäßige Kontrollen. In den letzten 5 Jahren kamen, außer in Düsseldorf, weniger als 10 % der Klientinnen über die Polizei in den Kontakt mit den Beratungsstellen. Im Vergleich dazu waren es vor 20 Jahren weit mehr als 50 % der Klientinnen. Es ist klar, dass die Betroffenen, die jetzt selbst oder über Dritte in die Beratungsstellen gelangen, nur die Spitze eines Eisberges sein können.

Tatorte liegen im Dunkelfeld der Prostitution
Die Betroffenen berichten immer wieder, dass dort, wo sie waren, viele andere Frauen und Mädchen sind, die nicht fliehen konnten. Häufig wissen sie aber nicht, wo sie waren, weil sie immer eingesperrt waren und keine Erinnerung an Städte und Straßen haben. So können ihre Aussagen dann nicht zur Ergreifung der Täter*innen führen.
Die Tatorte befinden sich in der Regel nicht im Bereich und an Orten der legalen Prostitution, sondern liegen eher im Dunkelfeld der Prostitution, in privaten Wohnungen und Häusern, die nur über digitale Recherche von Freiern und Ermittlungsbehörden gefunden werden können.

Kränkung und Demütigung wegen fehlender Ressourcen
In Gesprächen mit der Polizei wird deutlich, dass es für die Vorbereitung und Durchführung von Kontrollen und Razzien an Personal, an finanziellen Möglichkeiten und zeitlichen Kapazitäten fehlt.
Das spielt den Täter*innen in die Hände und bedeutet für die Betroffenen Kränkung und Demütigung. Für eine wirksame Bekämpfung werden handfeste Aussagen von Zeuginnen benötigt, die einhergehen mit Ermittlungsergebnissen der Polizei, damit diese entsprechend vor Gericht anerkannt und bewertet und Täter*innen verurteilt werden.

Zum Hintergrund
Die NRW-Vernetzung der spezialisierten Beratungsstellen für Betroffene von Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und Zwangsprostitution ist ein Zusammenschluss von acht vom Land NRW geförderten Fachberatungsstellen, die betroffene Frauen und Mädchen in ihrer Notlage unterstützen. Die Fachberatungsstellen sind seit über fünfundzwanzig Jahren zuständig für eine engmaschige psychosoziale Beratung, Begleitung und – nach Bedarf – für eine geschützte Unterbringung der Betroffenen.
Darüber hinaus gehören zu den Arbeitsaufgaben die Präventions-, Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit zum Thema Menschenhandel.
Der Welttag gegen Menschenhandel wurde 2013 von den Vereinten Nationen (UN) beschlossen und am 30. Juli 2014 zum ersten Mal begangen. Seitdem wird an diesem Tag auf Menschenhandel als schwere Menschenrechtsverletzung aufmerksam gemacht.

Fallbeispiel Lindita, 19 Jahre aus Albanien (Namen geändert)

Lindita ist gerade 17, als ihre Eltern sie mit ihrem ebenfalls 17Jährigen Cousin verheiraten. Beide fügen sich den Wünschen ihrer Eltern, aber merken bald, dass sich ihre Ehe nicht richtig anfühlt. Sie halten den Schein aufrecht, verlieben sich aber beide in jemand anderen. Lindita hat Luan kennen gelernt. Er ist schon ein richtiger Mann, fährt ein schönes Auto und lädt sie in teure Restaurants ein. Er verlangt von ihr, ihren Ehemann und damit auch ihre Familie, zu verlassen. Da sie inzwischen schwanger von Luan ist, und sie sich eine Zukunft mit ihm wünscht, lässt sie sich darauf ein. Irgendwann erzählt er ihr, dass er Geldschwierigkeiten hat und sie ihm helfen könne, wenn sie nett zu seinen Freunden und anderen sei, die er mit nach Hause bringt. Weil sie denkt, das sei nur eine Ausnahmesituation, willigt sie zunächst ein. Ab diesem Zeitpunkt behandelt er sie schlecht, beschimpft sie, wenn sie nicht mit den Männern, die er mit nach Hause bringt, schlafen will. Auch der Hinweis auf das gemeinsame Kind hält ihn nicht davon ab, sie weiter, inzwischen auch mit Schlägen, zur Prostitution zu zwingen. Er behauptet, mit dem Kind nichts zu tun zu haben, da sie ja Sex mit vielen Männern habe.

Irgendwann beschließt er, mit ihr nach Deutschland zu fahren. Sie hofft auf einen Neuanfang. Er bringt sie in eine Kneipe ins Ruhrgebiet, übergibt sie dem Wirt und verschwindet. Sie wird aufgefordert, sich zu den Männern zu setzen, mit ihnen zu trinken, zu flirten und mit Ihnen in die hinteren Räume zu gehen. Als sie sagt, dass sie auf ihren Freund warte, wird sie ausgelacht und ihr wird gesagt, dass er sie verkauft habe und sie den Kaufpreis nun verdienen müsse. Sie ist verzweifelt und kann nicht glauben, was da gerade mit ihr passiert. Der Wirt schlägt ihr ins Gesicht und schließt sie in ein Hinterzimmer, in das er am ersten Abend drei Männer schickt, die sie vergewaltigen.

So geht das die nächsten Wochen und sie verliert jede Hoffnung auf eine Veränderung. Eines Abends kommt ein älterer Mann als Kunde, der sehr freundlich zu ihr ist und sagt, dass sie schwanger diese Arbeit nicht machen sollte. Lindita erzählt ihm ihre Geschichte und er verspricht, ihr zu helfen.Einige Tage später kommt er und nimmt sie mit. Dem Kneipenwirt hat er Geld gegeben, weil er sie übers Wochenende gebucht hat und erst Montag zurückbringen wolle. Aber er bringt sie direkt zur Dortmunder Mitternachtsmission. Wir haben sie mit Essen und Kleidung versorgt, sie in eine sichere Unterkunft gebracht und zum Arzt begleitet. Sie war zu diesem Zeitpunkt schon im 6. Monat schwanger. Nach einiger Zeit der Erholung, äußert sie den Wunsch, eine Anzeige bei der Polizei zu machen, weil sie will, dass die Männer dafür bestraft werden, was sie ihr angetan haben. Leider reichen ihre Aussagen nicht für ein Strafverfahren machen. Der Freund ist nicht greifbar. So erreicht sie kurz nach der Geburt ihrer Tochter die Nachricht der Staatsanwaltschaft, dass das Verfahren eingestellt worden sei.

Nun stellt sich die Frage, wie es weiter gehen kann. Zum ersten Mal in ihrem Leben fühlt sie sich sicher und frei und freut sich über gesundes kleines Mädchen. Sie hat große Angst, zurück nach Albanien gehen zu müssen, weil sie von der Familie wegen des Ehebruchs verstoßen wurde und Luan Freunde im ganzen Land, auch bei der Polizei, hat. Er hat ihr deutlich zu verstehen gegeben, dass er sie überall finden kann.

Lendita stellt einen Asylantrag. Schon im Interview macht die Anhörerin deutlich, dass es schwierig sei, als Geflüchtete anerkannt zu werden, da Albanien als sicheres Herkunftsland gilt, obwohl davon ausgegangen werden kann, dass es für Lendita als ledige Mutter und als Romni kaum möglich ist, mit ihrer Geschichte in Albanien in Sicherheit zu leben. Auch der Hinweis auf Luan und seine kriminellen Kontakte wiegt nicht schwer genug, um ein Bleiberecht in Deutschland zu bekommen. Lendita hat mit Hilfe eines Rechtsanwalts Widerspruch gegen die Entscheidung des BAMF eingelegt und hofft auf erneute Prüfung ihrer Asylgründe. Und weil die Entscheidung darüber noch längere Zeit in Anspruch nehmen kann, haben wir für sie einen Deutschkurs mit Kinderbetreuung gefunden, den sie nun mehrmals in der Woche besucht. Am liebsten würde sie eine Ausbildung machen, um für sich und ihr Kind eine gute Perspektive zu bekommen.

 

Fallbeispiel Fatoumata, 18 aus Guinea (Name geändert)

Fatoumatas Vater starb, als Fatoumata 9 Jahre alt war. Sie zog mit ihrer Mutter in das Haus ihres Onkels, in dem schon seine zwei Ehefrauen mit ihren Kindern lebten.  Mit 15 Jahren wurde Fatoumata dann mit einem Freund des Onkels verheiratet. Sie weinte sehr, als sie ihre Mutter zurück lassen musste und mit ihrem Ehemann, einem erfolgreichen Geschäftsmann, nach Conakry zog. Das Leben dort war sehr schwer für Fatoumata: auch sie war die dritte Frau ihres Ehemanns. Die anderen Frauen ließen sie die anstrengendsten Arbeiten in Haus und Garten machen und jede Nacht kam ihr Ehemann zu ihr um mit ihr Sex zu haben. Ihm war egal, ob sie zu erschöpft war oder nicht wollte. Auch direkt nachdem ihre Tochter geboren war, kam er jede Nacht und vergewaltigte sie. Er war davon überzeugt, dass sie keine Freude beim Sex habe, nur daran liegen könne, dass sie nicht ordentlich beschnitten sei. Außerdem plante er, sie erneut beschneiden zu lassen. Davor hatte Fatoumata große Angst, weil sie wusste, dass eine Schwester ihrer Mutter wegen einer zweiten Beschneidung gestorben war. Sie vertraute ihre Angst einer jungen Frau in der Nachbarschaft an, der es ähnlich erging, wie ihr. Die Nachbarin hatte einen jungen Mann kennen gelernt, der ihr helfen wollte, von ihrem Ehemann weg zu laufen und ins Ausland zu gehen, um dort zu arbeiten und eigenes Geld zu verdienen. Fatoumata wollte unbedingt mit, ihre Tochter brachte sie zu einer Tante in Conakry.

Der junge Mann besorgte Papiere für die beiden und brachte sie nach Mali, von wo aus sie über Algerien nach Marokko gebracht wurden. Dort mussten sie sich einige Wochen im Wald verstecken, bis sie eines Nachts zum Meer auf die Schlauchboote getrieben wurden. Nach zwei Tagen auf dem Wasser wurden sie von der Küstenwache aus dem Meer gerettet und in ein Camp in Spanien gebracht. Nachdem sie sich ein paar Tage von den Strapazen der Reise erholt hatten, riefen sie die Telefonnummer an, die sie in Mali auswendig lernen mussten. Sie sollten dann abgeholt und zu ihrer Arbeit gebracht werden. Es kamen zwei nigerianische Männer, die die beiden dann mit einem Auto nach Deutschland brachten. Fatoumata wurde in ein Haus gebracht, ihre Freundin fuhr mit den Männern weiter. In dem Haus waren noch mehrere junge Frauen, und nachdem Fatoumata eine Nacht geschlafen hatte, erzählten ihr die Frauen, dass es ihre Arbeit sei, mit Männern Sex zu haben. Fatoumata beschwerte sich und sagte, dass sie so etwas nicht machen werde. Ihr wurde deutlich gemacht, dass ihre Reise teuer war, sie Schulden habe, diese abarbeiten müsse, und das könne sie nur in der Prostitution verdienen. Und, dass sie erst etwas zu essen bekäme, wenn sie mit den Männern ins Bett gehen würde. Sie fügte sich und blieb etwa 4 Wochen in diesem Haus, bis sie eines Tages bemerkte, dass die Tür nicht richtig verschlossen war. Sie ergriff die Chance und lief davon. Sie lief fast zwei Stunden, bis sie eine afrikanische Frau sah, die telefonierte und französisch sprach. Sie bat sie um Hilfe. Die Frau hatte Mitleid und brachte sie zur Dortmunder Mitternachtsmission, die sie im Internet fand.

Als Fatoumata bei der Mitternachtsmission ankam, war sie in einem schlimmen gesundheitlichen Zustand: sie hatte große Angst, dass die Täter sie finden würden. Sie war sehr erschöpft, litt unter Schmerzen am ganzen Körper, besonders am Kopf und im Unterleib und hatte große psychische Probleme. Nachdem sie der Mitarbeiterin aus Guinea ihre Geschichte erzählt hatte, wurde sie mit Lebensmitteln, Kleidung und Hygieneartikel versorgt. Wir informierten Ausländerbehörde und Sozialamt über ihre Ankunft in der Beratungsstelle und brachten sie in einer sicheren Unterkunft unter. Dort hat sie Gelegenheit sich kleine Mahlzeiten zuzubereiten. Ein paar Tage später kam Fatoumata vor einem Arzttermin ins Büro. Sie war kaum wieder zu erkennen: sie war ausgeschlafen und das Gefühl,  in Sicherheit zu sein. 

Die Mitarbeiterinnen der Mitternachtsmission begleiten sie auf ihrem gesamten Weg, den sie nach der mindestens 3monatigen der Bedenk- und Stabilisierungsfrist, gehen muss, während der sie entscheiden soll, ob sie eine Anzeige gegen die Täter erstatten möchte.

 

Quelle: Mitternachtsmission Dortmund; Fotos: K.N.; zur Vergrößerung der Fotos diese bitte anklicken!

 

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