Buchempfehlung ( 3 ) – von Gabriele Goßmann

        Jeanne-Philippe Blondel:

Ein Winter in Paris

Vorbemerkungen

Gabriele Goßmann; Foto: Ramona – Studioline Photography

Gabriele Goßmann ist nicht nur den LeserInnen von MENGEDE:InTakt! bekannt, denn bis zum Ende letzten Jahres gehörte sie auch zum Team der „Buchhandlung am Amtshaus“ und absolvierte dort eine Ausbildung als Buchhändlerin. Vorher hat sie studiert und das Studium mit einem Masterabschluss in Germanistik und Geschichte erfolgreich beendet.
Nach ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin hat sie zunächst mal eine Ruhepause eingelegt, um dabei zu überlegen, wie es in Zukunft weiter gehen wird.  Diese Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen; sie weiß jedoch, dass sie weiter in der Buchbranche arbeiten möchte. In der Zwischenzeit hat sie ihre Webseite fertiggestellt (www.auslesbar.de), mit der sie vor allem Literaturempfehlungen  publizieren möchte.
Und schließlich hofft sie auch, ihren ersten Roman bald fertigstellen und veröffentlichen zu können, an dem sie seit etwa drei Jahren arbeitet.
Heute setzen die wir Reihe fort, in der Gabriele Goßmann Bücher bespricht und zur Lektüre empfiehlt. 

Mood
Traurig, depri, nachdenklich

Content
Victor hat die Provinz hinter sich gelassen und ist zum Studium nach Paris gezogen. Er kommt aus einfachen Verhältnissen, der Druck an der Uni ist hoch. Victor ist einsam und fühlt sich unsichtbar. Einzig mit Mathieu, einem Jungen aus dem Kurs unter ihm, raucht Victor hin und wieder eine Zigarette. Als Mathieu in den Tod springt, verändert sich für Victor alles. Plötzlich wird er, der einzige Freund des Opfers, sichtbar. Seine Kommilitonen interessieren sich plötzlich für ihn, und langsam entwickelt er zu Mathieus Vater eine Beziehung, wie er sie zu seinem eigenen Vater nie hatte. „Ein Winter in Paris“ ist ein sensibles und zärtliches Buch über das, was uns Menschen zusammenhält. (Klappentext)

Preview
Ein junger Mann springt in den Tod. Für Victor, der ihn flüchtig kannte, verändert dieser radikale Schritt alles … (Klappentext)

Review
Jean-Philippe Blondels Roman schafft es, auf ruhige und melancholische Weise über Einsamkeit, Ignoranz und Leistungsdruck im Concours, einem Vorbereitungskurs für Elite-Universitäten, zu schreiben – und über die Auswirkungen der harten Lebensbedingungen an der Schule.

Als Mathieu sich aus Verzweiflung in den Tod stürzt, profitiert Victor von seiner Tat. Plötzlich wird er, der sich immer wieder als Mittelmaß bezeichnet, berühmt in seinem schulischen Umfeld, weil ihm eine Freundschaft mit dem Opfer nachgesagt wird, obwohl sich die beiden nur flüchtig kannten. Allerdings hätte sich aus dem sporadischen Kontakt durchaus eine Freundschaft entwickeln können, denn schließlich hatte Victor sogar vor, Mathieu zu seinem Geburtstag einzuladen. Leider zu spät. 

Mit einem Mal wird Victor vom Unsichtbaren ins Sichtbare gerückt. Zunächst lässt er vieles passiv über sich ergehen, indem er einfach nur versucht, diese für ihn unangenehme Zeit möglichst unauffällig zu überstehen, wenngleich er zudem befürchtet, die Abschlussprüfungen trotz des vielen Lernens nicht zu bestehen. Doch Mathieus Sprung vom Treppengeländer setzt beim Protagonisten einen Entwicklungsprozess in Gang. Der eine Winter in Paris hat ihn geprägt: Der Grundpfeiler für seine spätere Schriftstellertätigkeit wurde gelegt, indem er in der Abschlussprüfung über das Ereignis geschrieben hat. Durch das Niederschreiben des Geschehenen hat er es sichtbar gemacht, Schwarz auf Weiß. Somit hat er den Korrektor dazu gezwungen, sich mit dem Ereignis auseinanderzusetzen. Außerdem erkennt er von da an, was im Leben wichtig ist.

Der Autor zeigt mit der Darstellung von Mathieus Suizid gnadenlos mit dem Finger auf die Missstände des französischen Schulsystems. Der Verlust eines Schülers ist bloß ein kleines rotes Rinnsal zwischen weißen „unschuldigen“ Turnschuhen, die nicht beschmutzt werden dürfen – was jedoch bleibt, ist ein eindringlicher Schrei des Opfers, den keiner vergessen kann.

Doch obwohl es zunächst so scheint, als ließe sich das System von nichts und niemandem erschüttern, vollzieht sich auch hier eine Entwicklung, als sich einer der ungnädigsten Lehrer der Schule von einer anderen, mitfühlenden Seite zeigt.

Besonders gut gelungen ist dem Autor, dass er den Fokus nicht etwa auf das Opfer richtet, wie man vermuten würde, sondern auf sein soziales Umfeld. 

Mit der Zeit entsteht zwischen Victor und Mathieus Vater Patrick eine unnatürliche Verbindung. Während die meisten Romane von verbotenen Liebesbeziehungen handeln, geht es hierbei um eine Form von illegitimer Vater-Sohn-Beziehung. Der Vater erkennt in ihm einen Sohn und Victor sieht in ihm eine Vaterfigur, da er keine gute Beziehung zu seinem echten Vater hat. Wobei man sich fragen muss, ob es wirklich eine „verbotene“ Verbindung ist, so wie die Mutter des Opfers mehrfach betont, oder vielmehr eine Verschiebung der Dynamiken. Einerseits ist es für beide Betroffenen eine Hilfe, da sie miteinander reden können, doch andererseits muss ihnen klar sein, dass es sich nur um eine temporäre Notlösung handelt, denn beide machen sich Illusionen, die nicht erfüllt werden können.

Interessant gestaltet ist in diesem Zusammenhang auch der Wechsel der Zeitebenen. Der Brief des Vaters Patrick dient für den Protagonisten als Aufhänger, sich an damals zu erinnern. Er durchlebt diesen einen Winter in Paris noch einmal durch und lässt Revue passieren, wie er damals zu dem geworden ist, wer er heute ist. Daran zeigt sich, wie existenziell diese Verbindung für beide war, auch wenn sie nicht von Bestand war.

Während des Lesens wünscht man sich eine Aufklärung von Mathieus Freitod. Obwohl ein paar vage Vermutungen angestellt werden, bleibt der wahre Grund jedoch im Dunkeln. Was man dem Roman zunächst als Schwäche anhängen will, stellt sich letztlich als seine Stärke heraus. Wenn sich ein geliebter Mensch das Leben nimmt, bleibt oftmals ein dunkles Loch übrig, in welches die Angehörigen fallen. Dem Autor gelingt es, dem Leser diese quälende Ungewissheit spüren zu lassen.

Und dann wird am Ende doch noch ein Grund für den Suizid genannt: Adoleszenz. Ich muss gestehen, dass ich das Wort sofort in Google eingegeben habe, um nach den Symptomen der vermeintlichen Krankheit zu suchen. Doch dann war ich irritiert. Es bedeutet nichts anderes als die Endphase des Jugendalters. Das wiederum lässt Raum für neue Spekulationen. Was für manche selbstverständlich ist – seinen eigenen Weg zu finden, seine Persönlichkeit zu entwickeln, erwachsen zu werden – stellt für andere eine unüberwindbare Hürde dar, so wie auch für Mathieu, denn es gibt immer wieder jemanden, der einem in die Quere kommt, sei es ein Lehrer, der einen nicht vorankommen lassen will, eine Gesellschaft, die einen nicht akzeptiert, oder das eigene Ich.

Best Quote
„Die erste Nacht der Erde ohne Mathieu Lestaing. Und mein Geburtstag, übermorgen.“ (S. 54)

Learning
In diesem Buch erfährt man, wie gefährlich ein elitäres Schulsystem für junge Erwachsene sein kann, die sich noch in einem Selbstfindungsprozess befinden, welche Auswirkungen ein Suizid auf das soziale Umfeld hat und wie es einem trotz allem gelingen kann, seinen eigenen Weg zu finden.

HC Deuticke – Erschienen als deutsche Ausgabe: 24. September 2018; ISBN: 978-3-552-06377-8; 192 Seiten

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