Buchempfehlung (5) von Gabriele Goßmann

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Anita Brookner: „Ein Start ins Leben“ 

HC Eisele Erschienen als deutsche Ausgabe: 7. September 2018 (engl. Originalausgabe: 1981) ISBN: 978-3-96161-011-2 256 Seiten

Vorbemerkungen

Gabriele Goßmann ist nicht nur den LeserInnen von MENGEDE:InTakt! bekannt, denn bis zum Ende letzten

Gabriele Goßmann; Foto: Ramona – Studioline Photography

Jahres gehörte sie auch zum Team der „Buchhandlung am Amtshaus“ und absolvierte dort eine Ausbildung als Buchhändlerin. Vorher hat sie studiert und das Studium mit einem Masterabschluss in Germanistik und Geschichte erfolgreich beendet.
Nach ihrer Ausbildung zur Buchhändlerin hat sie zunächst mal  überlegt,  wie es in Zukunft weiter gehen wird.  Diese Überlegungen sind noch nicht abgeschlossen; sie weiß jedoch, dass sie weiter in der Buchbranche arbeiten möchte. Derzeit arbeitet sie in einem Versandantiquariat und beschäftigt sich daher mit alten Büchern anstatt mir neuen. In der Zwischenzeit hat sie ihre Webseite fertiggestellt,(www.auslesbar.de)
Auf der möchte sie vor allem  Literaturempfehlungen  publizieren; und schließlich hofft sie auch, ihren ersten Roman bald fertigstellen und veröffentlichen zu können, an dem sie seit etwa drei Jahren arbeitet.
Heute setzen  wir die Reihe fort, in der Gabriele Goßmann Bücher bespricht und zur Lektüre empfiehlt. 

Mood  Nachdenklich, witzig, ironisch

Content

„Von klein auf flüchtet sich Ruth Weiss in die Welt der Bücher, wo sie Antworten auf ihre Fragen sucht. Ihre nicht erwachsen werden wollenden Eltern sind ihr dabei keine Hilfe. Mutter Helen, eine ehemals gefeierte Schauspielerin, verbringt ihre Tage rauchend und immer einen Drink in der Hand im Bett. Vater George, einst Buchhändler und Helens größter Verehrer, sehnt sich nach einer Frau, die ihm ein gemütliches Heim schafft. Und die verwitwete Haushälterin Mrs. Cutler ist mehr damit beschäftigt, Helen bei Drinks und Zigaretten Gesellschaft zu leisten, als sich um Ruth oder den Haushalt zu kümmern. Ein Studienjahr in Paris soll die große Wendung in Ruths Leben bringen. Dort erfährt die junge Frau zum ersten Mal, was Freiheit bedeutet. Wird sie hier endlich ihrer Einsamkeit entkommen?“ (Klappentext)

Preview

„Dr. Ruth Weiss ist schön, intelligent – und einsam. Bei Balzacs Heldinnen sucht sie Antworten auf die Fragen des Lebens und der Liebe und sinnt darüber nach, wo in ihrer Kindheit und Jugend die Ursachen für ihre einzelgängerische Existenz liegen. Dabei schien doch anfangs alles so hoffnungsvoll, als sie als junge Frau in Paris ein neues Leben begann …“ (Klappentext) 

Review

Das Buch entspricht nicht den Erwartungen, die entstehen, wenn man den Klappentext liest. Man stellt sich ein ausschweifendes Leben der Protagonistin in Paris vor, inmitten der Bohemians, auf glamourösen Partys, mit einer aufstrebenden Karriere in der Literaturbranche. Ein Start ins Leben eben. Doch all das bleibt weitgehend aus. Es sollte ihre Geschichte sein, die Geschichte von Ruth Weiss, die ihr Leben zu leben weiß, aber schon die ersten Seiten des Buches zeigen, dass der Fokus der Geschichte nicht auf ihr selbst liegt, sondern auf ihren Eltern, insbesondere auf ihrer Mutter.
Diese stiehlt ihr als ehemals erfolgreiche Schauspielerin, die sich inzwischen jedoch in einer Lebenskrise befindet, regelrecht die Show mit ihren ständigen Dramen. Nein, nicht nur die Show – ihr ganzes Leben. Durch die Verschiebung des Schwerpunktes macht Anita Brookner deutlich, wie es ihrer Hauptfigur ergeht. Sie wird zur Nebenfigur ihrer eigenen Geschichte degradiert. Deutlich wird dies auch an der Erzählperspektive: Es wurde bewusst auf die Ich-Perspektive verzichtet. 

Das einzige Highlight, das Ruth in der kurzen Zeit in Paris erlebt, ist, dass sie einmal ihre tägliche Duschzeit verpasst. Ihr Start ins Leben bleibt schlichtweg aus, obwohl sie sich doch mitten in ihrem jungen Leben befindet. Ihre Entwicklung bricht ab, da sie sich um ihre Eltern kümmern muss. In Wirklichkeit muss Ruth die Erwachsene sein, denn ihre Eltern schaffen es selbst nicht zurück ins Leben. Sie sind aus der Bahn geraten: Während George zu einer anderen Frau flüchtet, die ihn bekocht und sich um ihn sorgt, liegt Helen kraftlos, erschöpft und depressiv im Bett und lässt sich von allen bedienen und bedauern. Wenn sie ruft, müssen alle springen, so auch Ruth. Sie leidet sehr unter der desaströsen Beziehung zu ihren Eltern, kann sich allerdings auch nicht aus ihrer Situation befreien. Ein paar Mal unternimmt sie den Versuch, ihr Leben in den Griff zu kriegen, z.B. indem sie in eine eigene Wohnung zieht und einen Aufenthalt in Paris plant, um den Spuren ihrer literarischen Vorbilder zu folgen, bis sie die Fangarme der Eltern wieder zurückholen. Somit ist es nicht die Literatur, die ihr Leben zerstört hat, wie sie zu Beginn erwähnt, sondern in erster Linie sind es ihre Eltern.

Durch die Unterhaltungen mit ihrer Freundin Anthea wird angedeutet, dass Ruth sich wenig Gedanken um ihr Äußeres macht. Sie wirkt bieder und altbacken. Sie flüchtet sich vor den innerfamiliären Problemen und vor ihrer Einsamkeit in die Welt der Literatur. Wenn sie sich mit den Werken Balzacs befasst, ist sie ganz in ihrem Element. Sie zeichnet sich vor allem durch ihre Disziplin, ihr Pflichtbewusstsein und ihren Fleiß aus und gelangt dadurch letztlich zu einem Doktortitel. 

Anders sieht es in ihrem realen sozialen Leben aus. Ihr Verhältnis zu Männern ist schwierig. Zunächst ist da Richard, von dem sie sich viel erhofft. Sie lädt ihn zu sich nach Hause ein, kocht für ihn, bereitet alles mühevoll und minutiös vor. Sie wartet und wartet und wartet; das Essen verkocht. Als sie denkt, er kommt nicht mehr, klingelt es an der Tür. Er hat es nicht vergessen, spricht aber pausenlos von einer Anderen. Obwohl die Szene witzig mit typisch britischem Humor beschrieben wird, bedeutet das Date für Ruth eine weitere soziale Enttäuschung. In Paris geht sie einige Zeit später eine Liaison mit dem verheirateten Professor ein. Es hätte theoretisch mehr daraus werden können, wenn George und Helen sie nicht daran gehindert hätten, in Paris zu bleiben. Die darauffolgende emotionslose, kurze Ehe mit Roddy entstand, „weil George sich so in die Idee verliebt hatte“ (S. 244) – sie war nicht in ihn verliebt. Nachdem ihre Mutter und auch Roddy gestorben waren, war die Literatur alles, was ihr blieb.

Der Text beinhaltet eine Vielzahl von Anspielungen auf Balzacs „La Comédie Humaine“ (als Gegenpart zu Dantes „Göttliche[r] Komödie“). Ruth erkennt sich in der tugendhaften Figur der Eugénie Grandet wieder. Obwohl sie sich eines Tages selbst eingestehen muss, dass sie mit ihrem biederen Verhalten nicht weiterkommt, ändert sich trotzdem nichts. Damit endet ihre Geschichte so wie der der Eugénie. 

Anhand der Frauencharaktere fächert die Autorin die damalige Rolle der Frau auf: Anthea, die sich modebewusst kleidet, um den Männern zu gefallen. Die Haushälterin Mrs. Cutler, die Klatsch und Tratsch liebt und den Haushalt beizeiten vergisst. Durch sie wird die Familie lange Zeit zusammengehalten. Erst als sie wieder einen neuen Mann findet, droht alles zu zerbrechen. Mrs. Jacobs, die Vorzeigegeliebte. Helen, die so gar nicht in die Rolle der Hausfrau passt und Ruth, die sich zwar als Hausfrau versucht, sich aber lieber der Literatur widmet. Wenn man es genau betrachtet, erkennt man trotz der Konflikte zwischen Mutter und Tochter allerdings auch eine Ähnlichkeit zwischen den beiden: Sie widmen sich der Kunst – der wissenschaftlichen Analyse der Schreibkunst auf Ruths Seite, der Kunst des Schauspielerns auf Helens Seite, doch während Ruth sich schon vor dem Beginn ihrer Karriere dem wahren Leben entfremdet, lebt Helen ihre Karriere auf der Bühne aus, bis ihre Glanzzeit vorüber ist. Ihr Tod ist ihr letzter Triumph auf der familiären Bühne.

Der Nachruf auf Anita Brookner, der dem Text vorangestellt ist, ist eine erwähnenswerte Besonderheit der Eisele-Ausgabe. Julian Barnes beschreibt eingehend, wie er die Autorin während ihrer Lebzeiten wahrgenommen hat. Auch wenn Julian Barnes Anita Brookner ausdrücklich davon freispricht, so prüde wie eine ihrer Protagonistinnen zu sein, kommt beim Lesen jedoch öfters der Anschein durch, dass sich die Autorin zumindest in ihrer geistreichen aber reservierten Art in ihrer Protagonistin widerspiegelt. 

Best Quote

„Im Alter von vierzig Jahren wurde Dr. Weiss klar, dass die Literatur ihr Leben ruiniert hatte.“ (S. 19)

Learning

In der Retrospektive erzählt, ergründet der Erzähler den gescheiterten Versuch der Protagonistin, einen Start ins Leben zu finden. Er zeigt auf, wie die Eltern sie davon abhalten, ihre eigenen Ziele zu verfolgen, indem sie ihre Tochter mit ihren eigenen Eskapaden überlagern, und was letztlich passiert, wenn man sich nicht auch auf sein eigenes Leben konzentriert: Man wird zu einem Schatten im Leben der Anderen.

Das Autorinnenfoto zur Rezension wurde der New York Times entnommen.

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