Taubenscheiße – Eine Kolumne von Peter Grohmann

Taubenscheiße

Peter Grohmann

Direkt vor unseren Augen entsteht eine kommunikative Parallelgesellschaft, auch russische Blase genannt. Die meisten Leute, die was auf sich halten, halten jene Medien für glaubwürdiger, die sie selber nutzen. Also wie Sie jetzt das Wettern der Woche mit der reinsten Wahrheit verwechseln oder Kontext auf Youtube verfolgen. Doch es bleiben offene Fragen. Denn 78 % der Leute finden, dass der Kapitalismus ziemlich gemein ist – aber 90 % von ihnen wählen, wenn sie wählen, kapitalismusfreundliche Parteien, Trump hin, Biden her.

Republikaner etwa stehen auch auswärts für Jesus, Demokratie und paar in die Fresse. Bei uns ist das alles anders – eben zivilisiert. Alle sind für Gewaltfreiheit, aber die Menschen gehen umgehend auf die Barrikaden, wenn man ihnen einen Parkplätze wegnehmen will. Und sie fordern radikale Maßnahmen gegen Taubenscheiße und Ausländer, sie finden Merkel und Vonovia cool und haben Sarah Wagenknecht vergessen und die Botschaft der Altvorderen: “Mögen die herrschenden Klassen vor einer Kommunistischen Revolution zittern. Die Proletarier haben nichts in ihr zu verlieren als ihre Ketten. Sie haben eine Welt zu gewinnen.”
Momentan gib’s keine Party fürs Proletariat, Ausgangssperre. Selbst mit Moos ist nix los. Die heimarbeitenden Massen fliehen vom Fegefeuer Facebook zur Hölle mit Telegram. Heiko Maas und Christian Lindner schweigen betreten, Friedrich Merz reibt sich seine eiskalten Hände: Sein Würgegriff kommt noch, watts ab.

Der Sillenbucher Philosoph Immanuel Kant behauptete lange vor Facebook, dass Aufklärung der Ausgang des Menschen aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit ist. Die ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Kant rief den Zeitgenossen im Tal zu: Venceremos, und habe Mut, dich deines eigenen Verstands zu bedienen! Das ist schwer, ich weiss es aus eigener Erfahrung, mir fehlte die Leitung, und die Partei hat’s auch nicht gebracht.
Vielleicht geht es auch den Kindern von heute so, die aus Familien kommen, in denen die deutsche Sprache nicht vorschriftsmäßig gesprochen wird: Die Mutter ist arbeiten, teils-teils, der Vater unbekannt. In vielen Behausungen fehlt nicht nur ein Laptop nebst funktionierendem Internet, sondern auch der versprochene Anruf des Lehrers (Fernunterricht) und ein Ofen. Die Kids hocken zu Hause und wissen oft überhaupt nicht, was sie machen müssen. So werden 70 % der abgehängten Drittklässler weder richtig schreiben noch lesen können – aber sie würden später ja eh falsch wählen.

Wir für uns haben uns inzwischen den Impfstoff, die Nebenwirkungen und die nächsten Wahlen gesichert. Und irgendwie ist alles auch bissel entspannend, finden Sie nicht?

 Peter Grohmann * ist Kabarettist und Koordinator der AnStifter gegen Gewalt und Vergessen. Wir danken ihm für die Zustimmung zum Abdruck dieser Kolumne.
* peter-grohmann@die-anstifter.de

 

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