Der Prophet von Mengede – Eine Kolumne von Dieter Radüchel

Der Prophet von Mengede

Von Dieter Radüchel

Seitdem Arno in Rente war, hatte er viel Zeit. Manchmal zu viel. Um der Langeweile zu entgehen, machte er sich auf zu kleinen, manchmal auch ausgedehnteren Spaziergängen. Manche führten ihn auch nach Mengede, den Vorort, in dessen Nähe er wohnte.

Auf einer dieser Wanderungen entdeckte er im Zentrum eine Kreideschrift auf dem Asphalt: ALLES LÜGE stand da in dreißig Zentimeter hohen Großbuchstaben. Alles?, dachte Arno, das hätte ich nicht gedacht.

Auf den ersten Blick war das eine klare Aussage, aber dann begann er zu überlegen: Wenn ALLES LÜGE aussagt, dass alles eine Lüge ist, so ist diese These auch gelogen, und selbst das wäre ja auch eine Lüge. Bedeutete dies, dass ALLES LÜGE doch der Wahrheit entsprach? Wer war dieser Prophet, der mit zwei Wörtern sein rationales Weltbild ins Wanken brachte?
Arno war überfordert, doch er war sicher, dass selbst Kant und Nietzsche an diesem Problem gescheitert wären. Das beruhigte ihn ein wenig und nur leicht verunsichert ging er nach Hause.

Einige Tage später, an ziemlich genau der gleichen Stelle, stand, diesmal mit gelber Kreide geschrieben, jedoch in der gleichen Größe: DEIN TV LÜGT. Das war konkret und diesen Eindruck hatte Arno bei diversen Talkrunden, Politikerinterviews und dem Wetterbericht auch schon mal gehabt. Aber in der Tagesschau, in dieser den Deutschen fast heiligen Nachrichtensendung, wurde doch nicht gelogen. Nein, niemals…oder vielleicht doch?
Sehr stark verunsichert schlenderte Arno nach Hause. Seinen Fernseher schaltete er an diesem Abend nicht an, sondern griff sich ein Buch, das er als Jugendlicher mal gelesen hatte: Münchhausens Abenteuer.

Die nächste Botschaft las er einen Monat später: IMPFEN TÖTET. Innerlich zog Arno den Hut vor dem Propheten: er war nicht nur ein Philosoph, sondern auch auf medizinischem Gebiet äußerst kompetent. Arno war in seinem Leben schon unzählige Male geimpft worden, Polio, Pocken, Tetanus und so weiter, das begann ja schon im Kleinkindalter, bisher hatte er alle überlebt. Aber jetzt ging es wohl um die Covid- Impfungen, die ja in sehr kurzer Zeit entwickelt worden waren. Aus welchen Quellen schöpfte dieser Seher, was wusste er, was Arno nicht wusste.
Er spazierte weiter und im nahe gelegenen Park fand er auf der Rückenlehne einer Sitzbank eine noch präzisere Aussage: IMPFUNG: TOD IN FÜNF JAHREN. Arno fiel ein Stein vom Herzen. Er durfte noch weiterleben, wenn er Glück hatte, sogar die volle Zeitspanne. Seine Euphorie dauerte nicht lange: Fünf Jahre nach der ersten oder nach der dritten Impfung, diese Angabe fehlte.
Vielleicht hatte auch diese Auskunft irgendwo auf dem Mengeder Pflaster gestanden und war vom Regen bereits verwischt worden.
Während des Heimwegs überlegte er, was er im Leben bisher versäumt hatte und was davon er in dem Zeitraum, der ihm verblieb, noch verwirklichen konnte.

Einige Wochen später fand er etwas Neues: ALLES NASOS. Das sagte Arno gar nichts.War das eine Botschaft für einen kleinen Kreis Eingeweihter, die sich auf dem gleichen hohen intellektuellen Niveau des Propheten bewegten? Es war ein Rätsel. Oder sollte der Seher jene Schwelle überschritten haben, von der man sagt, dass sie den verstandesmäßig Höchstbegabten vom Irrsinn trennt? Aber das wollte Arno nicht glauben. Nein, der Prophet von Mengede, welcher der Welt bisher so kluge Botschaften geschenkt hatte, musste auch mit ALLES NASOS etwas ganz Bestimmtes im Sinn gehabt haben. Nur was? Ins Grübeln versunken ging Arno an diesem Tag nach Hause.

Die Coronaseuche dauerte schon zwei Jahre und jetzt war auch noch Krieg in Osteuropa. Arno war wieder einmal in Mengede unterwegs, um seine Vorräte zu ergänzen. Auf der Suche nach Rapsöl hatte er bereits zwei Supermärkte durchkämmt. Ergebnislos.
In der Nähe des Parks entdeckte er eine neue Inschrift, diesmal nur ein Wort: M I R. MIR. Wem? fragte sich Arno zuerst, aber dann stieg seine Hochachtung für den Propheten noch höher: nicht nur auf den Gebieten der Philosophie und Medizin war er ein Meister, auch die slawischen Sprachen beherrschte er virtuos und benutzte sie, um seine Botschaft zu übersenden. MIR, mit diesem Wunsch ging Arno beschwingt nach Hause und dachte bei sich: Prophet, ich wünsche dir immerwährende Weisheit, einen ausreichenden Vorrat an Kreide und Friede, du unbekannter Mann.

 

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