50 Jahre Fritz-Hüser-Institut: Kritik und Zärtlichkeit

Von Bergarbeitern zu ClickworkerInnen:

Dr. Iuditha Balint; Foto Roland Gorecki: Stadt Dortmund

Dortmunder Institut erforscht Literatur der Arbeitswelt

Seit 50 Jahren wird in Dortmund die Literatur der Arbeitswelt gesammelt und erforscht: Das Fritz-Hüser-Institut für Literatur und Kultur der Arbeitswelt (FHI) ist das einzige wissenschaftliche Institut weltweit mit diesem Sammlungsschwerpunkt.
Zum Jubiläum ein Gespräch mit Dr. Iuditha Balint, die das FHI seit 2018 leitet und über Literatur der Arbeitswelt promoviert hat.

Womit beschäftigt sich das Fritz-Hüser-Institut?
Das Institut erforscht, wie Arbeit in der Literatur reflektiert wird, was überhaupt an Arbeit darin vorkommt und welche Alternativen die Literatur zu den realen Arbeitswelten bietet. Literatur ist ja nicht der Wahrheit verpflichtet. Sie kann den Arbeitswelten, die sie beschreibt, affirmativ begegnen, aber auch kritisch. Beides findet sich in der aktuellen Literatur, daher steht unser Jubiläum auch unter dem Motto „Kritik und Zärtlichkeit“.

Was macht diese neue Literatur der Arbeitswelt aus?
Wir finden dort literarische Figuren, die sich gar nicht so sehr unterscheiden von denen des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie sind in eine Arbeitswelt eingebettet, die ihnen nicht guttut. Sie werden ausgebeutet, arbeiten unter schwierigsten Bedingungen, zum Beispiel Clickworkerinnen und Clickworker. Das sind prekär beschäftigte Menschen, die im Internet Screenshots machen, Produktbeschreibungen verfassen, Bilder miteinander vergleichen. Sie verdienen ausgesprochen schlecht. Solchen Figuren begegnen viele Autoren und Autorinnen in ihren Romanen sehr zärtlich. Sie machen in ihren Texten auf ihre oft ausweglose Situation aufmerksam und nehmen eine Haltung ein, mit der Literatur auch Kritik übt.

Und diese Kritik hat Tradition?
Ja, spätestens seit der Industrialisierung – Émile Zola etwa beschrieb in „Germinal“ die katastrophalen Arbeitsverhältnisse von Bergarbeitern und deren Widerstand. In der deutschsprachigen Literatur war Thomas Mann der erste, der über Neurasthenie, also Erschöpfung infolge der Beschleunigung der Arbeitswelt, geschrieben hat. In seinem Roman „Buddenbrooks“ geht es um den Verfall einer Familie, eines Familienunternehmens – und zu einer arbeitsweltlichen Erschöpfung der männlichen Protagonisten, die diese Firma leiten. Thomas Mann beobachtete Phänomene wie Work-Life-Balance, Entgrenzung von Arbeit und Freizeit, die Beschleunigung und Intensivierung von Arbeit sehr früh und macht in seiner Literatur darauf aufmerksam – ganz genau wie die Autorinnen und Autoren heute.

Wen erreichen Sie mit Ihrer Arbeit?
Als Forschende stellen wir unsere Arbeit auf wissenschaftlichen Tagungen vor, als Vermittlende suchen wir je nach Thema die passenden Kooperationspartner*innen und Moderator*innen. Unsere Veranstaltungen finden statt in Buchhandlungen, Museen oder im Literaturhaus – aber auch in Clubs, Cafés oder Parks. Beim Festival „Djelem Djelem“ hatten wir einen Schreibworkshop zum Thema Arbeit, Ausbeutung und Selbstermächtigung für Mitglieder der Rom*nja- und Sinti*zze-Communities. Daraus erwuchs eine Lesung im Taranta Babu, einem interkulturellen Zentrum im Klinikviertel. Das Publikum war bunt gemischt.

Sie vergeben auch Stipendien an Autoren und Autorinnen, die sich mit Arbeitswelten auseinandersetzen…
Unsere aktuelle Stipendiatin, Berit Glanz, arbeitet an einem Roman, der die Themen Genetik und Arbeitsmigration verknüpft. Das ist ein eher ungewöhnliches Thema, deshalb bin ich sehr dankbar dafür. Ein zweiter Stipendiat, Philipp-Bo Franke, beschäftigt sich mit Pflegearbeit – derzeit ein großes Thema in der zeitgenössischen Literatur, vor allem seit der Pandemie. Literatur reagiert ja stark auf die Realität, in der Literatur verdichten sich die Tendenzen der Zeit. Deshalb ist sie auch so spannend für uns als Institut.

Welche Themen sind noch prägend für die aktuelle Literatur?
Viele Romane und Theaterstücke, vereinzelt auch Gedichte, fokussieren die Situation von Menschen, die seit den 1950er-Jahren als Arbeitsmigrantinnen und Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen und arbeiten das aus der Perspektive der zweiten oder dritten Generation auf. Diese Literatur beschreibt nicht nur die Ankunft sogenannter Gastarbeiterinnen und Gastarbeiter und deren Lebenswelten, sondern gerade auch ihr Bemühen, sich zu integrieren und ein lebenswertes Leben zu führen – was oft fast verunmöglicht wurde. Dazu gehören auch die rassistischen Anschläge der 90er-Jahre. Literatur über Arbeitsmigration ist auch Literatur über prekäre Beschäftigung – es geht um psychische Gesundheit, Familien-, Geschlechter- und Klassenverhältnisse, Diskriminierungen oder Sinnstiftung durch Arbeit.

 Fritz-Hüser-Institut
Das Fritz-Hüser-Institut sammelt, erschließt, untersucht deutschsprachige Literaturen der Arbeitswelt und macht sie zugänglich. Es arbeitet in den Bereichen Forschung, Bibliothek, Archiv und Literaturvermittlung. Seit 2007 hat es seinen Sitz am LWL-Museum Zeche Zollern in Bövinghausen. Entstanden ist das FHI aus einer Privatsammlung. Fritz Hüser (1908 bis 1979), Leiter der Dortmunder Stadtbücherei und Mitbegründer der Dortmunder Gruppe 61, übergab seine Sammlung 1973 der Stadt Dortmund. Heute umfasst die Spezialbibliothek über 40.000 Bände zu Literaturen der Arbeitswelt seit dem 16. Jahrhundert und wird laufend ergänzt. Das Archiv beinhaltet etwa 120 Vor- und Nachlässe bzw. Sammlungsbestände von Autor*innen, bildenden Künstler*innen und literarischen Gruppen bzw. Vereinigungen seit dem 19. Jahrhundert.

dortmund.de/fhi

Quelle: Pressestelle der Stadt Dortmund

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